POESIE DER STADT

Die Poesie der Stadt entsteht, so G. K. Chesterton, aus dem Chaos bewusster Kräfte und absichtsvoller Symbole. Das klingt wie ein Vorgriff auf Marcel Duchamps´ ästhetische Differenz- gelesen als Unterschied zwischen dem, was dem Künstler vorschwebt, und der Manifestation der Idee. Und der Unterschied zwischen dem, was er ausdrücken will, und dem, wie es gelesen oder interpretiert wird. Und natürlich: die Differenz zwischen der eingefahrenen Sicht auf die Dinge und ihren möglichen anderen Bedeutungen.

Weniger lyrisch ausgedrückt: die Poesie der Stadt braucht Räume, die ein interessantes, unerwartetes und berührendes Geschehen zulassen oder sogar stimulieren.
Diese Räume für Poesie sind weniger in der Einheitlichkeit einer Stadt zu finden als vielmehr in ihren nicht geplanten und nicht planbaren Brüchen. Frei nach Tolstoi: Städte sind nur auf eine einzige Art einheitlich, aber ihre Brüche sind von jeweils besonderer Art.
Die Poesie der Stadt kann sich gründen auf Überraschung, Erinnerung, Assoziation, auf eine unendliche Reihe jeweils einmaliger Differenzen zwischen Absichten und Wirkungen, aus denen eine Vieldeutigkeit entsteht, die der architektonische Funktionalismus sich niemals ausmalen kann. Dass gerade funktionalistische Bauten aufgrund ihrer lapidaren Sachlichkeit für viele andere Nutzungen geeignet sind und so auf unerwartete Weise die Partitur der Stadt bereichern: das ist schon eine besondere Spielart der Poesie.
Poesie lässt sich nicht bauen, auch nicht in Berlin. Banale Container mit schwer lastenden Steinfassaden als poetische Manifeste der preußischen Aufklärung verkaufen zu wollen, ist lächerlich. Es handelt sich dabei eher um Wiedergänger der preußischen Kasernen, die den Mythos Berlins allerdings mitbestimmen.
Und ohne Mythos kommt keine Stadt aus. Mythos dient der Selbstvergewisserung durch große Geschichte, große Begebenheiten, große Persönlichkeiten – oder was gerade dafür gehalten wird. Und –ergänzend, manchmal auch statt dessen- die kulturtechnische, meist literarische Überhöhung: was Balzac für Paris, James Joyce für Dublin, ist Raymond Chandler für Los Angeles.
Mythos darf weder mit Poesie noch mit Identität verwechselt werden. Die documenta-Stadt Kassel ist documenta-Stadt nur alle 5 Jahre für jeweils 100 Tage. Zwischendurch, in der mythosfreien Zeit, sucht sie eifrig nach ihrer Identität, übersieht aber dabei gern ihre immanente Poesie....

Die Poesie der Stadt ist ein Mosaik, dessen Zusammensetzung man selbst entschlüsseln muss. Eine Art der Poesie erschließt sich dadurch, an einem Ort zu bleiben und die Stadt sich vorbei bewegen zu lassen. Eine andere Art erschließt sich in der eigenen Bewegung, teils mühsam, teils offenbar zu mühsam: „Die Fahrstühle zerstören das Heldentum der Treppe. Es liegt kein Verdienst mehr darin, nahe am Himmel zu wohnen“ (Lesehinweis: Gaston Bachelard, Poetik des Raumes).

Die Poesie von Häusern liegt in ihren Räumen, in der Vielfalt, den Geheimnissen, den Überraschungen, die sie bieten oder suggerieren.
Na ja: mit der Definition, was die Poesie der Stadt nun eigentlich ist, sind wir noch nicht sehr weit gekommen.
Man kann aber so viel sagen: sie ist unabhängig von Effizienz und frei von Eitelkeit. Ein genuin architektonisches Projekt kann sie deshalb nicht sein, auch wenn Architektur einen kulturellen Mehrwert gegenüber dem profanen „Bauen“ beansprucht. Bezeichnungen wie „Poetischer Rationalismus“ sind daher auch eher Beschwörungsformel als Programm.
Sie kann sogar anti-architektonisch sein. Ein poetischer Sehnsuchtsort wie das Pfarrhaus von Sesenheim (Lesehinweis: Johann Wolfgang v. Goethe, Dichtung und Wahrheit) würde eine Überplanung nicht überstehen. Räume und Gebäude, die uns berühren, weil sie gleichermaßen zeitlos sind wie aus der Zeit gefallen scheinen, werden nicht bleiben können, wie sie sind. Dieser Bestand ist aber die Nahrung der Poesie: sie transformiert und verzaubert ihn. Die Architektur verändert ihn.
Poesie der Stadt: wenn eine interessante Vergangenheit die Räume für die Gegenwart so faszinierend gemacht hat, dass man sich für die Zukunft ihre Erhaltung wünscht, auch wenn das gegen die geltende wirtschaftliche und technische Vernunft verstößt.....

Schon gar nicht hängt die Poesie der Stadt an Architekturformen, die an positiv konnotierten Traditionslinien schmarotzen, zu denen pikanterweise mittlerweile auch die jeder Tradition abholde Klassische Moderne gehört. Deren Poesie liegt, wenn man Marinetti und Le Corbusier folgen will, in der Ästhetik und Geschwindigkeit der Maschinen, von denen die Gebäude zu lernen haben und die sich gefälligst auch auf die Stadt übertragen sollen. Ich folge ihnen darin nicht. Poesie ist auch nicht an Ideologien gebunden.