MUSEUMSKULTUR UND STADTKULTUR
Klassische Museen sind Zitadellen der Bildung; der Zugang zu ihnen ist - auch architektonisch - streng ritualisiert.
Zeitgemäße Museen beziehen, wenn sie wirklich gut sind, ihre Stadtumgebung ein, ja verschränken und überlagern sich mit ihr, so dass Stadtraum und Museum einander steigern.
Ein Glücksfall ist es, wenn die musealen Themen und Inhalte von der Stadtstruktur authentisch mitgetragen und erklärt werden.
Ein Beispiel dafür ist das „Buddenbrook-Haus“ in Lübeck. Die Manns lebten in diesem Haus Mengstraße 4, das im 2. Weltkrieg bis auf den Keller und die spätbarocke Schaufassade zerstört wurde. So blieb der Ort auch nach dem Wiederaufbau authentisch, und auch die Räume der Lübecker Altstadt sind noch ganz Buddenbrook: die Originalschauplätze des Romans können aufgesucht und identifiziert werden.
Was die Manns für Lübeck sind, sind in gewisser Weise die Brüder Grimm für Kassel- oder sollen es werden: Teil der kulturhistorischen Identität und Werbeträger.
Jacob, Wilhelm und zeitweise Ludwig Emil Grimm lebten von 1805 bis 1829 in Kassel, fruchtbare Jahre, nicht nur in Bezug auf das Sammeln von Volksmärchen.
Kassel verfügt noch über zwei authentische Grimm-Wohnstätten: die nördliche Torwache (1814-1824) am –sic- Brüder-Grimm-Platz und das Haus Schöne Aussicht bzw. Bellevue Nr. 9 (1824-1826). Beide Gebäude wurden im 2. Weltkrieg stark zerstört, sind nach ihrem Wiederaufbau aber kenntlich geblieben.
Sie reichen als Gehäuse jedoch bei weitem nicht aus für die großen Pläne, die die Stadt Kassel mit ihrer Museumslandschaft hat. Das neue Brüder-Grimm-Zentrum soll nicht nur Museum sein, sondern auch Forschungs- und Schulungsstätte und außerdem ein Touristenmagnet erster Güte.
Entsprechend schwierig gestaltet sich der Findungsprozess: Inhalte, museologische und räumliche Organisation, Gebäudestandorte- kurz, das ganze Konzept ist auch nach jahrelangen Diskussionen noch unklar.
Diese Diskussionen sind natürlich notwendig. Leider enden sie bisher an den virtuellen Außenwänden der imaginierten Museumsgebäude, und das ist ein Defizit.
Während sich Lübecks Stadträume mit den Manns und den „Buddenbrooks“ nahtlos decken, wird man beim Anblick der Kasseler „Trompete“ kaum die Märchenwelt der Brüder Grimm assoziieren.
Es ist natürlich – nicht nur in Kassel, sondern überall - Unsinn, wieder eine 19.-Jahrhundert-Kulisse zu bauen. Es muss vielmehr darum gehen, wichtige Stadträume, die mit dem Wiederaufbau gänzlich dem Auto überlassen wurden, mit der Entwicklung der Museumslandschaft für die Stadtkultur, für das Stadtleben zurück zu gewinnen.
Warum Stadträume? Im Sinne der bürgerlichen Aufklärung haben die Geisteswissenschaften, hat die Kultur vier Orte: das Archiv, die Bibliothek, den Hörsaal und das Museum, also geschützte und ritualisierte Orte der Kontemplation und Rezeption, des Lernens und Lehrens.
Wenn wir aber über Museumskultur und Stadtkultur sprechen, müssen diese Orte um einen ergänzt werden. Der Marktplatz, die Agora, der Stadtraum ist der Ort, an dem Ideen nicht nur verbreitet und ausgetauscht werden, sondern im Gespräch, im Diskurs auch entstehen. Solche öffentliche Orte, solche Räume, die lebendigen Austausch ermöglichen, muss eine kulturell ambitionierte Stadt auch bieten- auch heute.
Wesentliche Bestandteile der Museumslandschaft Kassel müssen daher die Stadträume sein. Sie sollen die Museumsgebäude integrieren und miteinander verknüpfen. Dabei ist nicht das Design die Hauptsache, sondern die Möglichkeit, als Fußgänger ungefährdet, entspannt und angeregt die Stadt durchqueren und erleben zu können. Nur so lassen sich die einzelnen Einrichtungen zur Museumslandschaft verbinden, nur so kann die Museumslandschaft den angestrebten Marketing-Erfolg erzielen, und nur so –und das ist das Wichtigste- kann die Museumslandschaft zu einer durchgreifenden, nachhaltigen Verbesserung der Stadtqualität beitragen, auch für Nicht-Museumsgänger.