ÖFFENTLICHER RAUM

Das Normativ der Stadt ist ihr öffentlicher Raum. Er ermöglicht Begegnung, Austausch, Aktion und Kontemplation. Er ist damit der eigentliche Träger des städtischen Lebens, der Urbanität.
Deshalb ist die Gestaltung eines einzelnen Platzes, einer einzigen Straße als Begegnungs- und Interaktionsraum zu wenig. Stadträume müssen Netze bilden, die die Fließbewegungen des Stadtlebens aufnehmen und anregen.
Die Befürchtungen, dass die Stadträume im Zuge der Virtualisierung des Lebens ihre Berechtigung völlig verlieren könnten, sind nicht eingetreten. Es ist eine eher verstärkte Nutzung von Straßen und Plätzen festzustellen, auch wenn sie nicht gerade rappelvoll sind. Diese intensivere Nutzung manifestiert sich in einer Zunahme der Außenbewirtschaftung und Warenpräsentation, in –gefühlt, nicht gemessen- längeren Aufenthaltszeiten, in Straßenfesten, aber auch in mehr oder weniger geglückten, oft aufwändigen Neugestaltungen- und in kulturphilosophisch sehr deutlichen, politisch sehr vorsichtigen Forderungen zur Rückgewinnung stadträumlicher Qualitäten.
Die politische Zurückhaltung hat Gründe: Rückgewinnung der Stadträume bedeutet fast immer auch, die Dominanz der Verkehrsfunktion in diesen Räumen zugunsten von nicht genau quantifizierbaren „Aufenthaltsqualitäten“ zurückzudrängen.

Die Atmosphäre, die Attraktivität eines Stadtraums lässt sich nicht in Richtlinien fassen, räumliche Ansprüche von Verkehrsmitteln schon. So werden, auch wenn in der RASt 06 eine ganzheitliche Betrachtungsweise postuliert wird, Stadträume immer noch primär als Verkehrsräume definiert, die bestimmte Durchfahrtsqualitäten haben sollen – wenn es sein muss, auch auf Kosten der Aufenthaltsqualität, oder durch Zerstörung funktionierender, aber nicht richtlinienkonformer Nutzungskombinationen.
Stadträume sind mehr als die Summe ihrer Abmessungen. Sie müssen Platz bieten für Ungeplantes, das heißt, sie dürfen nicht komplett funktionalisiert werden. Eine Fußgängerzone ist ohne Nischen und Ruhezonen lediglich eine Kosumrennbahn, ein Platz ohne Bänke nur eine Leerfläche. Stadtstraßen brauchen maximal breite Gehwege nötiger als alle anderen Arten von Flächen.

Stadträume leben auch von den Beziehungen zu den Gebäuden, die sie umgeben. Edel gestaltete Abstandsflächen zwischen beeindruckenden und selbstbezogenen Einzelarchitekturen sind keine Stadträume. Gebäude sind nicht nur danach zu beurteilen, was sie für sich, sondern auch danach, was sie für den Stadtraum tun.
Stadträumlich gesehen sind, horribile dictu, die baukulturell höchst fragwürdigen Rekonstruktionen an den Plätzen von Hildesheim, Hannover, Dresden und Frankfurt fraglos ein Gewinn für die Bürger der Stadt. Leider erhält dadurch auch eine fatale Vergangenheitsverklärung Auftrieb. Es wäre deshalb sehr zu wünschen, dass moderne Architektur sich auch zum Ziel setzt, die sagen wir: zeitgemäße Wohnlichkeit von Stadträumen zu fördern. Historisierende Kulissen werden dafür nicht gebraucht.
Allerdings: konstitutiv für Gestalt und Aura von Stadträumen sind ihre Geschichte und ihre Topografie. Über sie setzt man sich bei Neugestaltungen und Transformationen nicht ungestraft hinweg. Und außer dem Wunsch, einer gerade getragenen Designmode zu folgen, gibt es auch keinen wirklichen Grund, das zu tun.

Historische Stadtplätze sind vollgelebt. Sie sind voller Erinnerungen an kleine und große Ereignisse: die Hinrichtung von Jan Hus auf dem Altstädter Ring, das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die Dithmarscher Landesversammlungen auf dem Marktplatz in Heide, Hitlers Rede auf dem Heldenplatz, der sauteure Cappucino auf dem Markusplatz. Was wären Städte ohne solche Plätze?

Wahrnehmbare stadträumliche Qualitäten gehören zu den wichtigen „weichen“ Kriterien, die die Identität und Attraktivität von Städten, die Lagequalität von Stadtquartieren bestimmen. Mit stadträumlichen Qualitäten lassen sich Stadtbürger halten und Stadtbürger gewinnen.
Stadträume müssen viele Anlässe bieten, sie aufzusuchen. Zentralität, gutes Erscheinungsbild und die Möglichkeit zu fruchtbaren, friedlichen Interaktionen sind solche Anlässe, sind Merkmale attraktiver Stadträume.