SIEDLUNG UND LANDSCHAFT

Die Beziehungen zwischen Siedlung und Landschaft sind immer prekärer und konfliktreicher geworden. Nicht unbedingt zum Nutzen der Städte, aber jedenfalls zu Lasten der Landschaft. Dies gilt heute für jede Form von Siedlungs- und Kulturraum, vom Dorf bis zur Metropolregion.
Dieser Zustand wird allgemein beklagt, ist also wohl ungewollt. Aber keineswegs ungeplant, denn er ist Ergebnis einer Summe von eigennützigen Einzelentscheidungen. Gründe für diese Entscheidungen sind etwa Profitinteressen von Privaten oder der öffentlichen Hand, oder auch von technokratischen Regeln, die als Axiome gesetzt wurden.
Wohl auch deshalb ist es so, dass die biologischen Funktionen der Landschaft und ihre Wirkungszusammenhänge heute zwar weitgehend bekannt sind, aber als normative, weil lebensnotwendige Kräfte nicht wirklich ernst genommen werden.
Gleichwohl wird –unter dem Etikett „Nachhaltigkeit“- von der Politik Handlungsbedarf eingeräumt, wenn auch dieser Begriff völlig undefiniert verwendet wird.
Dank dieser Unschärfe kann die „Nachhaltigkeit“ der wirtschaftlichen Entwicklung (deklariert als Sicherung von Arbeitsplätzen in Industrie, Gewerbe, Landwirtschaft, Dienstleistung) ausgespielt werden gegen alles Mögliche, so auch gegen die Erhaltung von Biotopstrukturen, deren Verlust ja schließlich ausgeglichen werden kann....
Er kann aber nicht ausgeglichen werden. Innerstädtische Industriebrachen, die zu Freiflächen umgestaltet werden, können keine hochwertige Artenvielfalt hervorbringen; diese braucht langfristige Stabilität und Ungestörtheit des Lebensraumes, und sie braucht die Verbindung zu ergänzenden Lebensräumen, eben den viel genannten Biotopverbund.
Die ästhetisch inszenierte, die künstliche und künstlerisch überhöhte Landschaft ist eine relativ neue und spannende Art von Landschaft. Artifizielle Setzungen an herausgehobenen Standorten, zeichenhafte Interventionen entlang banaler Verkehrstrassen: die Landschaft wird zum bewusst erlebbaren „Kulturraum“. Die Landschaft bekommt eine spezifische Iden-tität. Dass die so hergestellten Bezüge rein visuell sind und die grundlegenden Funktionen der Landschaft als Lebensraum nicht wirklich verbessern, kann man diesen Projekten nicht anlasten. Aber vielleicht lenken sie doch etwas von den wirklichen Problemen ab?

In der Gesamtbilanz ist es so, dass die natürlichen biologischen Funktionen der Landschaft insgesamt immer weiter abnehmen: durch Bebauung, Versiegelung, Zerschneidung von Lebensräumen, landwirtschaftliche Monokulturen, Eintrag von Schadstoffen aller Art.
Unsere Lebensgrundlagen sind dadurch gefährdet. Das ist auch eine „unbequeme Wahrheit“, der wir uns endlich ernsthaft stellen müssen.
Deshalb wird es interessant sein, ob und wie die aktuellen Überlegungen und Empfehlungen für eine „nachhaltige“ Entwicklung der Metropolregion Paris, die ihre Belastungsgrenzen erreicht und einige auch überschritten hat, das politische Handeln prägen werden. (Lesehinweis: Stadtbauwelt 182, Heft 24.09)
Es gibt mindestens einen guten Grund, die Arbeitsergebnisse der sehr unterschiedlichen Gutachter ernst zu nehmen: sie sind sich einig über wesentliche Ursachen der Misere.
Politische, administrative und technokratische Verkrustungen seien für viele Fehlentwicklungen verantwortlich: „Über die physische Geografie hat sich eine administrative gelegt, genau genommen ist sie an deren Stelle getreten“ (Jean-Paul Robert).
Der Bodenmarkt agiere ausschließlich projektbezogen und lasse raumstrukturelle Strategien nicht zu. Grundstücke würden nur verfügbar gemacht, wenn sie unmittelbar verwertet werden könnten. Dabei biete Paris noch reichlich Bauland.
Was die Entwicklungsansätze betrifft: einig sind sich die Gutachter darüber, dass Nachverdichtung auf jeder Maßstabsebene eine geeignete und flexible Strategie ist, um Stadtbewohner zu binden und zu gewinnen, infrastrukturelle Kerne zu entwickeln und zu stärken - und frei zu haltende Flächen zu entlasten. Daraus können auch unerwartete Lagequalitäten entstehen: auf einmal bietet die Vorstadt Attraktionen, Versorgung und Erholungsgrün. Bestandsentwicklung und bauliche Ergänzungen seien dafür jedenfalls besser geeignet als Abriss und Neubau.
Die vorgeschlagenen Nachhaltigkeitsstrategien behaupten, sie seien polyzentrisch, topografisch sensibel, bestandsschonend und kleinteilig vernetzt.
Viele der vorgeschlagenen konkreten Projekte haben aber merkwürdig wenig Bezug zu diesen Parametern: Hochhausfamilien, neue gewaltige Achsen aus Verkehrstrassen fügen sich wieder zu den üblichen spektakulären Inszenierungen der Megacity zusammen. Was dies mit Innovation und Nachhaltigkeit zu tun hat, bleibt rätselhaft.
Topografie und siedlungsimmanente Landschafts- und Freiräume waren das Thema aller Gutachter. Dabei wurden ökologische und soziale Aspekte nicht konkretisiert; es ging vor allem um die bildhafte Suggestion von Räumen und Zeichen.
Wenn die gebotenen Bilder aber die Einsicht in die Notwendigkeit einer nachhaltigen Landschaftsentwicklung auch inmitten der Siedlungen befördern, sind sie nützlich. So werden etwa die Randzonen entlang von bebauten und auf unterschiedliche Weise unbebauten Bereichen nicht als Grenzen beschrieben, sondern als Möglichkeitsräume, als „Zwischenreiche“, in denen zwei Zustände, zwei Welten einander ergänzen. (Lesehinweis zum Zauber von Rändern: Wolfgang Büscher: Deutschland, eine Reise)

Mehrere Gutachter wiesen darauf hin, dass der Landschaftsraum der Ile de France, die Täler der Seine und ihrer Nebenflüsse die Identität der Region immer noch maßgeblich bestimmen. Die konkrete Topografie, das Netz der Gewässer wirkt so der Entropie der Agglomeration entgegen.
Von da ist es nicht weit zur Erkenntnis, dass Gewässerläufe mit ihren Uferzonen, Waldstücke, Parks und landwirtschaftlich genutzte Flächen keine Baulandreserven sind, sondern ökologisch, funktional und kulturell unverzichtbare Festpunkte, ohne die eine Region weder attraktiv noch funktionsfähig wäre. Diese Festpunkte muss man schützen, sie dürfen „umstellt, aber nicht bebaut“ werden. Sie sollen zu Netzen verbunden werden, die die Agglomeration gliedern und entlasten: biologisch, sozial, ästhetisch, kulturell und historisch.
Die Bedeutung dieser grünen Netze zu erkennen ist das eine; ihre Qualitäten und Potenziale zu definieren das nächste. Strategien zum Schutz und zur Entwicklung müssen notwendig folgen.
In Regionen wie Paris ist dieser Handlungsdruck besonders groß. Die Definitionen und Empfehlungen von dort sind nicht unmittelbar übertragbar, können aber gedankliche Ansätze auch für weniger prosperierende Regionen bieten, in denen Landschaft nur als Leere gesehen wird: wenn doch nur jemand käme, der sie zubaut!
Das ExWoSt-Forschungsprojekt „Renaturierung als Strategie nachhaltiger Stadtentwicklung“ des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung dokumentiert anhand von 20 Modellprojekten die Möglichkeiten, „rückgebaute“ Siedlungsbereiche zu urbanen Landschaftsteilen zu entwickeln, temporäre stadtbezogene Freiraumnutzungen zu organisieren und Siedlungsränder durch Bepflanzung und Gestaltung aufzuwerten. Weit weniger glanzvoll als der Pariser Auftritt, aber pragmatisch und weit gespannt. Die Vielfalt der dargestellten Ideen entzückt dabei ebenso wie der kreative Umgang mit Hemmnissen und Problemen.
Der Erfolg der Projekte hängt dabei von vier Faktoren ab:
einem stimmigen Konzept, das sinnvoll und nachvollziehbar auf der örtlichen Topografie und (Industrie-) Geschichte aufbaut
dem kontinuierlichen Engagement von Bürgern außerhalb der etablierten Verwaltungs- und Politikhierarchien
der ausreichenden Finanzausstattung, sei es über Spenden oder über Fördergelder
Gebäude, Verkehr, Plätze, Straßen
den sichtbaren und nachweislichen Verbesserungen in bezug auf Image, Gestaltung, Wohnumfeld oder auch die ökonomischen Nutzungsmöglichkeiten von Flächen.
Hinderlich ist dabei, dass Renaturierung keine Kernaufgabe der öffentlichen Planung ist- im Unterschied zur Organisation von Wachstum. Entsprechend sind weder die Strukturen der Verwaltung noch die planungsrechtlichen Vorgaben darauf ausgerichtet. (So wird die Entwicklung „flexibler Festsetzungen“ angeregt: wittern wir hier ein Oxymoron?)
Die entscheidende Erkenntnis des Forschungsprojektes ist: die Renaturierung wird sich als städtebauliche Entwicklungsstrategie etablieren. Neue Typen „urbaner Landschaften“ werden entstehen- als temporäre oder dauerhafte Wälder, Erholungsbereiche, landwirtschaft-lich genutzte Flächen. Sie können dem Hochwasserschutz dienen oder dem Anbau von Pflanzen als Energieträger. Sie kombinieren ökologische, soziale und ökonomische Aspekte in unterschiedlichen Varianten und Prioritäten.
Diese neuen Landschaftstypen ergänzen vielfältig die offene, strukturreiche Kulturlandschaft, können sie aber nicht ersetzen. In Einzelfällen ist auch durchaus zu fragen, ob eine Wiederbebauung nicht sinnvoller ist als ein originelles Brachflächendesign, vor allem, wenn so bislang unbebaute Landschaftsräume auch unbebaut bleiben können.
Denn die Aufgabe, den Landschaftsverbrauch zu stoppen, bleibt unverändert aktuell. Muss die biologische Bedeutung der Landschaft erst überall akut gefährdet sein, damit man ihre Unersetzlichkeit erkennt? (Lesehinweis: Walter Rossow, Die Landschaft muss das Gesetz werden)